Es ist Herbst und es ist schön. Ein schöner Herbsttag. Asphalt Tiger macht einen Ausflug.
Asphalt Tiger schaut sich das Dorf an. Asphalt Tiger schaut sich fragend um. Er fragt:
„Wo ist denn das Denkmal? Was ist das denn für ein Denkmal?“
„Das ist das Kriegerdenkmal!“ Ein netter Mann antwortet ihm. „Da müssen Sie da lang! Da vorne gleich bei dem Schild in den Wald rein. Breiter Weg, von den Hundeführern durch das Laub getrampelt. Die gehen da immer mit den Hunden rein. Können Sie nicht verfehlen!“
„Danke! Kriegerdenkmal? Ist das nicht immer in der Mitte vom Dorf?“
„Ist doch fast in der Mitte! Und außerdem hat man das Denkmal von der Landstraße nach Berlin aus immer gut gesehen!“
Wenn die grauen Lastkraftwagen reingebrettert sind.
Heute ist die Autobahn im Dorf lauter zu hören als die Landstraße. Aber während die Autobahn vorbeiführt, führt die Landstraße mitten durch. Die Landstraße bringt Karawanen von neuen Autos, die durch das Dorf fahren. In allen Farben.
Die Leute sitzen in Sonnenstühlen an der Landstraße und warten, dass mal eine Lücke zwischen den Autos kommt, damit sie die Landstraße überqueren können. Es ist ein schöner Herbsttag, es ist warm, die Sonne scheint, und die Leute haben Zeit. Sie haben es sich gemütlich gemacht. Sie knistern mit den Zeitungen und blinzeln in die Sonne.
Der Mann erklärt:
„Eigentlich sind bei uns im Dorf gar nicht viele gefallen, Kriegsende. Die meisten sind gestorben, als sie die Brennerei überfallen haben und besoffen waren. Erschossen! Zur Strafe!“
Vielleicht ist das ein schöner Tod, denkt Tiger: im Rausch, im Zustand höchsten Glückes und größter Beseligung. Wenn’s am schönsten ist, soll man gehen!
Aber dennoch! Asphalt Tiger seufzt: Haben sich die jungen Sowjetsoldaten so weit durchgekämpft, und kurz vor Berlin, kurz vor dem Sieg, so kurz vor der Befreiung nur: tot.
Asphalt Tiger findet das Kriegerdenkmal, in einem kleinen Wäldchen, umzäunt. Im frischen Grün des Grases, auf glatten Marmorplatten, die Namen der Toten, ihre Todesdaten. Asphalt Tiger wischt das Herbstlaub beiseite und liest: 29. April 1945 … Wenige Tage später war alles vorbei.
Für kurze, ganz kurze Zeit waren sie glücklich: Bester Kartoffelschnaps! Wie in ihrer russischen Heimat! Nach langem, entbehrungsreichem Marsch konnte es ihnen doch keiner missgönnen, sich das eine oder andere Schnäpschen zur Beruhigung der Nerven und zur Entspannung der Gliedmaßen hinter die Binde zu gießen. Na dann: Hoch die Tassen! Na Sdorowje!
Sie singen! Es geht hoch her. Plötzlich fliegen die Türen der vom nächtlichen Fackelschein erleuchteten Brennereikantine mit lautem Knall auf. Gewehrmündungen richten sich auf die erstarrten Feiernden und die Kälte der späten Aprilnacht des Jahres 1945 weht herein. „Hände hoch!“
Alles erstarrt. Die Patrouilje strömt herein und verhaftet die jungen Lackelz mit trüben Augen und vagen Bewegungen von ihren Holztischen weg: „Dawai, Dawai!“ Im Handumdrehen werden sie, verschwitzt und ungewaschen, vor die Offiziere gezerrt, die sie mit verächtlichen Blicken mustern. Wie ein Hammerschlag dröhnt das Urteil in den Schädeln der Zecher: „Verurteilt! Füsilieren!“
Abb.: Asphalt Tiger versteht kein Kyrillisch. Junge Leute haben der Soldaten gedacht und Gänseblümchen auf das Grabmal gelegt. Ein zärtliches Zeichen: Ihr seid nicht vergessen!
Abb.: Üppig wächst der Spitzwegerich, wachsen Sauerampfer, Löwenzahn und Gänseblümchen (und all die andern) zwischen den Grabtafeln, rund um das Kriegerdenkmal. Leben gedeiht da, wo andere tot sind. Asphalt Tiger hält inne, um zu danken.
Asphalt Tiger dankt den sowjetischen Soldaten für die Befreiung vom Hitlerfaschismus. Denen, die im Kampf gestorben sind, und denen, die im Rausch gestorben sind. Das Land hatte bald wieder angefangen zu blühen, die Kartoffeln hatten auch wieder angefangen zu blühen und wuchsen groß unter der Erde und gaben nach der Erne guten Schnaps, der geht runter wie Öl. Jahr für Jahr. Asphalt Tiger wird sich wohl bei jedem künftigen Gläschen Brandenburger Kartoffelschnaps der viel zu jung gestorbenen Sowjetsoldaten erinnern:
„Was Ihr getan habt, wird nicht vergessen werden!“
Knapp neben dem Denkmal, hinter einer großen Mauer, rauscht die Autobahn, auf der seit Jahren immer mehr Waren, doch immer weniger Gebrauchswerte befördert werden, gnadenlos vorbei. Asphalt Tiger strafft sich und schreitet würdevoll von dannen (das Gläschen lustig schlenkernd).