Vielleicht eines der letzten schönen Häuser in Berlin Mitte: dieses Haus. Da war mal eine Fleischerei drin. Heute sind alle Würste abgehängt, alle Messer stumpf und alle Thekenglasscheiben mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Auf dem rotweiß-karierten Wachstuch der Theke liegen keine Salami, Mortadella oder Jagdwurst mehr, sondern eine dicke, schwarze Schabe mit ausgetrockneten Beinchen auf ihrem runden, einst glänzenden, jetzt matten Rücken.
Kein Undercover-Agent der Gesundheitsbehörde schert sich drum. Denn alle Fenster und alle Türen des Hauses Glinkastraße Ecke Taubenstraße sind fest vernagelt. Mit Sperrholzplatten. Keine Oma leint hier mehr neben dem Eingang ihren Fifi an, und wenn sie wieder rauskommt und Fifi brav war, gibt es ein Scheibchen Wurst. Überhaupt: Es wohnt gar keine Oma mehr hier!
Die Gegend ist nachts wie ausgestorben. Deswegen liebt der Tiger diese Gegend. Er liebt sie, weil ihn hier der Hauch einer anderen Welt anhaucht. Einer vergangenen Welt, die einen hier sonst nirgends mehr anhaucht. Einer rätselhaften Welt. Mit Zeichen, die bald keiner mehr entziffern kann. Weil es sie nicht mehr gibt.
Und jetzt kann es Asphalt Tiger ja verraten, dass das hier sein geheimer Lieblingsort in Berlin ist: Dieses schmale Dreieck zwischen der Russischen Botschaft im Norden und der Nordkoreanischen Botschaft im Süden. Zwischen Glinkastraße im Osten und Mauerstraße im Westen. Dieses staubige, verlassene Niemandsland, in dem noch die Geister Breschnews und Kim Il Sungs zu schweben scheinen.
Er kann es verraten, weil es dieses Bermudadreieck der Geschichte Ostberlins, das bis jetzt jeden Hauch Innovation in seine staubigen, gewaltigen unterirdischen Lungenkammern eingesaugt hat, bald nicht mehr gibt. Wenn erst einmal die überdimensionierte Einkaufspassage Leipziger Platz No. 12 in unmittelbarer Nähe des verwunschenen Paradeiserls ihre Pforten öffnen wird, werden die Wellen der Besucherströme über diesem jetzt noch stillen Viertel zusammenschlagen.
Hin und her werden sie fluten, die einkaufswütigen Massen: zwischen Friedrichstraße im Osten und Leipziger Platz im Westen und weiter zum Potsdamer Platz, und immer durch die engen Gassen des verschlafenen Viertels rund um Taubenstraße und Jägerstraße. Ein Hallo wird das geben! Was das heißt, ist allen klar:
Aus die Maus mit Schönheitsschlaf.
In der Pause Maurerbrause
alles wird poliert.
Schon sind die ersten Anzeichen des Neuen zu entdecken. Die Tradition des autoritären Staatssozialismus fortführend, hat sich das Bundesdeutsche Familienministerium in den Gebäuden der Deutschen Bank eingenistet, dort, wo einst die Bürokraten des DDR-Innenministeriums streng und bitter ihren Dienst verrichteten.
Gerade wird der unübersichtliche Riesenkomplex des Familienministeriums, dessen krakenartige Auswüchse über Straßenschluchten in die angrenzenden Gebäude wuchern wie der gegenwärtige autoritäre Etatismus in alle Verästelungen des Sozialen, saniert, modernisiert, gnadenlos funktionstüchtig gemacht. (Natürlich: nur die Fassade! Hinter den staubigen Fenstern türmen sich die grauen Aktenberge und die finsteren Pläne wie eh und je!)
Und so wird nach und nach alles hier gesäubert, jedes Haus von jahrzehntealtem Asbeststaub und Lysolgeruch befreit, gereinigt oder vielleicht mit deutscher Gründlichkeit beseitigt. Verschwinden wird so mancher heimliche Ort, wie gewisse Akten in gewissen Amtsstuben verschwinden und immer schon verschwunden waren.
Und immer wieder wundert sich Asphalt Tiger, dass es diese schöne Ecke Berlins überhaupt noch gibt!
Noch aber ist es Nacht über diesem verlassenen Teil Ostberlins, und wenn er die Luft anhält, kann Asphalt Tiger unten, in den unterirdischen Gängen, noch immer die Agenten flitzen hören. Die Schritte ihrer billigen Lederimitationsschuhe hallen wie schon seit sechzig Jahren unter den Kanaldeckeln, und Asphalt Tiger schlägt das Herz bis an den Hals, wenn sie mal in den engen Gängen aufeinandertreffen und ihr aufgeregtes, feindliches Zischen aus der Tiefe an sein Ohr dringt.